Im RND-Interview erklärt der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschafts­forschung (DIW), Marcel Fratzscher, warum er mit Fridays for Future gemeinsame Sache macht, aber dennoch nicht zum Klimastreik am Freitag geht.

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    9 months ago

    Lesenswertes Interview! Ich kopiere mal zwei Teile, die ich besonders interessant fand:

    Verkehrsminister Volker Wissing bezeichnet Fridays for Future als Lobbygruppe. Sehen Sie das auch so?

    Fridays for Future ist eine Gruppierung, die sich für die Gesellschaft als Ganzes einsetzt, nicht für ein bestimmtes Interesse einer kleinen Gruppe. Wenn Sie Lobby als Gruppe definieren, die Einzel- und Gewinn­interessen vertritt, wie etwa die Tabak­industrie und ihre Lobby­verbände, dann ist Fridays for Future sicher keine. Für uns ist entscheidend: Fridays for Future beruft sich auf wissenschaftliche Zahlen, Fakten und Studien. Es argumentiert wissenschaftsbasiert, hat gut begründete Anliegen. Daher halte ich die Gruppierung für einen seriösen Teil der Zivil­gesellschaft, mit dem es sich für die Wissenschaft lohnt, in den Diskurs zu gehen.

    Wo ist die Grenze für einen Wissenschaftler zum Aktivismus überschritten? Bis zu welchem Punkt kann Wissenschaft noch neutral sein?

    Wissenschaft ist neutral, wenn sie sauber arbeitet und ihre Arbeit überprüfbar ist. Ihre Frage ist ja eigentlich: Soll Wissenschaft mit Politik, mit Wirtschafts­entscheidern, mit gesellschaftlichen Gruppen in den Diskurs gehen und auf Veranstaltungen auftreten? Das ist explizit unser Auftrag! Wir müssen raus aus dem Elfenbein­turm. Wir machen seit fast 60 Jahren halbjährlich die Wirtschafts­prognose für die Bundes­regierung. Andere Studien machen wir auch mit Verbänden oder mit Gewerkschaften oder eben mit zivil­gesellschaftlichen Gruppen. Wir argumentieren auf der Grundlage wissenschaftlicher Zahlen, Fakten und Erkenntnisse und bringen diese in die Debatte ein. Die Grenze zum Aktivismus ist klar: wenn das wissenschaftliche Fundament fehlt oder ignoriert wird. Deshalb müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen, was sie nicht wissen, aber eben auch laut und deutlich, was sie wissen.

    Jede Veränderung erscheint mindestens teuer – oder gleich bedrohlich. Ist das auch ein deutsches Mentalitäts­problem?

    Es sind politische und wirtschaftliche Partikular­interessen, die zum Teil bewusst Ängste schüren wollen. Wenn Ängste entstehen, führt das dazu, dass die Akzeptanz für Veränderungen schrumpft. Und Deutschland war vor den Corona-, Inflations- und Energie­krisen in einem sehr erfolgreichen Jahrzehnt. Wir haben heute immer noch heute die größte Beschäftigung, die höchste Anzahl von Menschen in Arbeit, die wir jemals hatten. Jetzt kommen die Ängste: Verlieren wir, was wir da erreicht haben? Gesellschaftliche Gruppen werden gegeneinander ausgespielt. Und wer ängstlich ist, will keine Veränderung.