Ist das Bürgergeld verfassungswidrig, weil es keine gesunde Ernährung ermöglicht? Ernährungswissenschaftliche Befunde, die erst nach der letzten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entstanden sind, sprechen dafür. Unter anderem der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft fordert: „Ein […] Bürgergeld muss […] ausreichend sein, um materielle und soziale Ernährungsarmut zu vermeiden. Die aktuellen […] Beträge entsprechen allerdings nicht diesem Anspruch“ (ebd., I). Basierend auf diesen Befunden sieht ein aktuelles Rechtsgutachten in der Höhe des Existenzminimums eine Verletzung des Menschenrechts auf angemessene Ernährung aus Art. 11 des UN-Sozialpakts.

Diese neuen Forschungsergebnisse sind auch verfassungsrechtlich relevant. Ohne ein materielles Kriterium dürfte der geltende Statistik-Warenkorb nicht mehr verfassungsgemäß sein. Entgegen aktuellen Forderungen, die Regelleistungen zur Herstellung eines Lohnabstands abzusenken oder nicht weiter anzuheben, spricht verfassungsrechtlich viel für eine Erhöhung. Immerhin sind nach aktuellen Zahlen der europäischen Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen 6,9 Prozent der Menschen in Deutschland von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen; 13 Prozent sind nicht in der Lage, sich jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Geflügel, Fisch oder einem vegetarischen Äquivalent zu leisten. Das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums darf diesen Zustand nicht perpetuieren. Zwei verfassungsrechtlich zulässige Lösungsmöglichkeiten liegen auf der Hand, nämlich eine Vergrößerung der Referenzgruppe oder eine Steigerung des Ernährungsanteils.

[…]

In Reaktion auf die Befunde könnte entweder die Referenzgruppe vergrößert werden, so dass die Ausgaben einer weniger verarmten Gruppe herangezogen werden. Das würde aber auch Ausgaben in anderen Bereichen betreffen. Alternativ dazu könnten einzelne Positionen durch Warenkorb-Rechenschritte erhöht werden. Denn wo aus dem Statistik-Warenkorb Dinge herausgenommen werden können, ist es auch möglich, Dinge hineinzulegen. Das BVerfG hält Modifikationen des Rechenmodells für zulässig, sofern sie sachlich gerechtfertigt sind (BVerfG 2010, Rz. 139) und das gesamte Modell nicht in Frage stellen (BVerfG 2014, Rz. 109). Auf die Möglichkeit von Warenkorb-Steigerungen wies das BVerfG ausdrücklich hin: Wenn bei der Überprüfung der statistisch ermittelten Beträge Änderungen festgestellt werden, die die Bedarfsdeckung betreffen, „kann der Gesetzgeber mit Hilfe der Warenkorbmethode vielmehr auch kontrollierend sicherstellen, dass der existentielle Bedarf tatsächlich gedeckt ist.“ (BVerfG 2014, Rz. 109).

Zusätzlich ist der Gesetzgeber auch durch völkerrechtliche Verpflichtungen bei der Bestimmung des Existenzminimums gebunden (BVerfG 2014, Rz. 74, mit Verweis auf BVerfG vom 18.7.2012, Rz. 68). Mit Verweis auf die niedrigen Ernährungsanteile an der Berechnung kommt ein aktuelles Gutachten zu dem Ergebnis, dass die Höhe des Existenzminimums das Menschenrecht auf angemessene Ernährung aus Art. 11 des UN-Sozialpakts verletzt, denn „eine gesunde Ernährung wäre mit den Bürgergeld-Regelsätzen nur unter Verzicht auf andere grundlegende Bedürfnisse möglich. Dies ist aber gerade nicht ausreichend, um den völkerrechtlichen Anforderungen zu genügen, sodass im Ergebnis eine Erhöhung der Regelsätze geboten ist“ (S. 23). Weil Deutschland 2023 dem Individualbeschwerdeverfahren des Pakts beigetreten ist, könnte dies nun auch individuell geprüft werden.

  • rbn
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    6 months ago

    Habe ich gelesen aber eben nicht verstanden. Fleisch und insbesondere Fisch sind teuer, ja. Aber Linsen, Bohnen, Erbsen, Getreide usw. sind alle ziemlich billige Grundnahrungsmittel. Wenn das Bürgergeld dafür nicht ausreicht, dann reicht Bürgergeld aber auch einfach gar nicht, um sich irgendwie zu ernähren. Noch günstiger geht eigentlich nur noch, indem man ausschließlich Mehl, Zucker und Kartoffeln isst.

    • Haven5341@feddit.deOP
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      6 months ago

      Es geht nicht ums gerade so überleben sondern darum, sich vollwertig gesund ernähren zu können. Aus dem Artikel:

      Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages haben den Stand der fachlichen Äußerungen dazu aufbereitet. Die darin gelisteten Studien unterscheiden sich im Design, in der Preisbildung usw., sind aber in ihrer Einhelligkeit deutlich: Alle bis auf eine ältere und sehr umstrittene Arbeit (Thießen/Fischer 2008) stellen fest, dass eine gesunde Ernährung mehr kostet, als bei der Regelbedarfsberechnung für Nahrungsmittel berücksichtigt wird.

      Das bezieht sich auf:

      Kosten einer Ernährung nach den Empfehlungen der DGE (PDF)| Wissenschaftliche Dienste des Bundestages

      Und weiter in dem Artikel:

      2020 stellte auch der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (Beirat) fest, dass die Regelbedarfe realistisch nicht für eine gesundheitsfördernde Ernährung entsprechend der DGE-Empfehlungen ausreichen. Die Berechnungsgrundlagen und -methoden der Regelbedarfsermittlung seien daher zu überprüfen. Ausdrücklich hielt der Beirat fest, dass „reine Informationsmaßnahmen und generelle Appelle zum Konsum von nachhaltigeren Lebensmitteln als Instrumente weniger geeignet“ sind als finanzielle Leistungen. Als Vertiefung dieses Befunds berechnete Biesalski 2021, dass eine Ernährung von den Beträgen, die bei der Regelbedarfsberechnung zugrunde gelegt wurden, bei Kindern und Jugendliche zu Wachstumsverzögerungen und einer eingeschränkten kognitiven Entwicklung führen kann. Ebenfalls 2021 belegten Kabisch u.a., dass der Ernährungsanteil für alleinlebende Erwachsene selbst dann nicht für eine gesunde Ernährung genügt, wenn von mehreren gesunden Ernährungsweisen die günstigste (im Ergebnis: die vegetarische) betrachtet wird. Im März 2023 bestätigte der Beirat seinen Befund, dass die aktuellen Regelbedarfsanteile nicht für eine gesundheitsfördernde Ernährung ausreichen, und wiederholte seine Forderung nach einer entsprechenden Anpassung der Berechnungsmethode (S. If, XIII, 109).

      Das bezieht sich auf:

      Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten (PDF)| Wissenschaftlicher Beirat

      • rbn
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        6 months ago

        Wie gesagt: ich bin für eine Erhöhung. Ich finde es nur widersprüchlich, wenn wir als Gesellschaft darüber diskutieren, bspw. die Mehrwertsteuer auf Fleisch anzuheben, um durch den höheren Preis die Nachfrage zu senken und gleichzeitig eine so hohe Mindestmenge Fleisch festlegen, die sich jeder leisten können soll.